Genre - und wie damit umgehen?

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip

Was haben der Horrorfilm und der Dokumentarfilm gemeinsam? — Beide handeln von Monstern! Wenn Euch diese Antwort verwundert, sollten wir uns die Zeit nehmen ein wenig über Genres und was sie ausmacht zu plaudern.



Horrorfilme lassen uns Spielarten der Todesangst erleben. Sie tun das stets, indem sie gewöhnliche Menschen der Willkür eines Monsters aussetzen. Das Monster kann ein Psychopath (Halloween), ein Tier (Der weiße Hai), ein Dämon (Paranormal Activity), ein Außerirdischer (Alien) oder sonst etwas sein, das die Grenzen der Alltagserfahrung in feindseliger Manier sprengt. Dabei ist ein Element von besonderer Wichtigkeit: der relationale Gegenstand (oder wie ich es in meinen Vorträgen in den USA und dem UK nenne: "das Thingy"). Nehmen wir folgendes Beispiel: ein verrückter Mörder rennt hinter einem kreischenden Teenager her. In seinen Händen hält er ein rostiges Fleischermesser. Für uns besteht kaum ein Zweifel, dass diese Szene dem Genre "Horror" zuzuordnen ist. Stellen wir uns aber vor, der selbe Mörder würde stattdessen eine Pistole in der Hand halten, so würde sich unser Gefühl bezüglich der Genrezugehörigkeit augenblicklich ändern und wir würden nun eher an einen Thriller oder Actionkrimi denken. Woran liegt das? In meinen Kursen über Plot-Algorithmen stelle ich meinen Studenten regelmäßig diese Frage und meist erhalte ich die Antwort, dass die Vorstellung, durch ein rostiges Messer zu sterben, einfach viel schlimmer sei, als von einer "sauberen" Kugel durchbohrt zu werden. Ja, das mag stimmen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Film eine Zeichensprache darstellt, die die abstrakte Welt der sinnstiftenden Prinzipien in erlebbare Bilder verwandelt. Das heißt, es steckt viel mehr Sinn dahinter, als uns zunächst klar ist. Daher schauen wir uns an, was ein "relationaler Gegenstand" dramaturgisch alles leistet:

Ein guter relationaler Gegenstand stellt eine funktionale Schnittstelle zwischen handelnden Personen dar. Funktional - das heißt nicht ausschließlich symbolisch sondern eben auch ganz praktisch. Die Blumen, die der Kavalier seiner Angebeteten bringt, die Pistole, mit der der Kidnapper sein Opfer in Schach hält, das Laserschwert, mit dem Darth Vader auf Luke Skywalker losgeht, sie alle machen eine Beziehung sichtbar und nachvollziehbar. Besonders raffiniert erscheint uns eine Szene dann, wenn ein und der selbe Gegenstand im Handlungsverlauf per Zweckentfremdung seinen Sinn wechselt und damit den dynamischen Verlauf einer Handlung abbildet. Oft wird kritisiert, dass Regisseure wie Zack Snyder davon besessen sind, einprägsame oder ästhetische Bilder zu schaffen, dass sie es aber nicht schaffen Szenen zu gestalten — und damit sind Abschnitte eines Films gemeint, die eine dynamische und intelligente Entwicklung aufweisen. Man denke nur an das Glas Milch in Inglourious Basterds. Die Dynamik des Films wird durch den Wechsel der Gegenstände objektiv sichtbar: Milch, Dossier, Maschinenpistolen.

Ein gutes Drehbuch erkennt man an den "Thingies"! Denken wir nur an das Glasauge, das in Breaking Bad zunächst in Walters Swimming Pool treibt und dann unter sein Bett rollt. Von dort starrt es ihn an, als wäre es sein schlechtes Gewissen. Intelligenter Dialog kommt erst an zweiter Stelle. Was aber hat das Thingy mit dem Genre zu tun? Nun, da es ja die praktische Verbindung zwischen den Figuren abbildet: sehr viel. Warum wird ein Horrorfilm zum Thriller, wenn man die Kettensäge des Mörders mit einem Revolver vertauscht? Weil Psychokiller, wie sie der Horrorfilm darstellt, keine Berufskiller sondern nach außen hin scheinbar ganz normale Zeitgenossen sind. Daher sind ihre Mordwerkzeuge bevorzugtermaßen zweckentfremdete Alltagsgegenstände: Küchenmesser, Bratenspieße, Gartenscheren. Wer einen Revolver benutzt, macht das beruflich, wie etwa ein Berufsverbrecher oder ein Cop. Und der gehört in ein ganz anderes Genre. Relationale Gegenstände sind deswegen sehr gut geeignet, ein Genre zu definieren, weil sie das materielle Zentrum einer menschlichen Beziehung darstellen. Das römische Imperium verdankt seine Macht vor allem der Erfindung der Sandalen, welche es den Legionen gestattete, innerhalb eines Tages ohne Zuhilfenahme von Pferden an die 50 km zurückzulegen. Es ist also auch durchaus nachvollziehbar, wenn wir Monumentalschinken oft als Sandalenfilme bezeichnen. Und jeder Western lebt vom Gebrauch von Erfindungen, die das blutrünstige Voranschreiten der europäischen Zivilisation am amerikanischen Kontinent begünstigten: Colt, Winchester, Eisenbahn, Telegraf… wer sich für diesen Aspekt der Filmgenres interessiert, der kann sich ja einmal die Mühe machen, aufzulisten, welche relationalen Gegenstände unvermeidbar in welchen Genres auftreten und welche Bedeutung dadurch transportiert wird.

Es gibt aber noch einen weiteren für uns wichtigen Aspekt, wenn wir uns mit dem Thema Genre auseinandersetzen: ich nenne es die Aggregatszustände eines Films. Ich übernehme dafür den von Experimentalfilmer Peter Kubelka gern herangezogenen Vergleich zwischen Film und der Kochkunst. Ein abendfüllender Film ist für mich wie ein mehrgängiges Menü. Es genügt nicht nur, dass wir unterschiedliche Geschmacksrichtungen erfahren, für die richtige Abwechslung wird vor allem durch wechselnde Aggregatzustände gesorgt: Flüssig, fest, sämig, knusprig, teigig, zart, saftig, geleeartig etc. gute Filme machen das gleiche: Sie führen uns durch die unterschiedlichsten Sub–Genres. Zwar gibt es so etwas wie ein Signalgenre, dem gegenüber sollte aber stets ein Kontrastgenre stehen. Die Mutter aller Sommer-Blockbuster Der weiße Hai etwa signalisiert „Horror“ enthält aber regelmäßig Comedy-Elemente. Selbst der furchtbare Moment am Anfang des Films, wenn der Hai das erste Opfer tötet, wird gegengeschnitten mit einer Aufnahme eines total betrunkenen Teenagers am Strand, der nichts mitbekommt und nur murmelt „Ich komme schon“ weil er die Schreie in seinem Suff als Aufforderungen, endlich ins Wasser zu kommen, missverstehen dürfte. Kontrastierende Genres vergrößern die emotionale Fallhöhe. Anstatt einen Film in drei Akte einzuteilen, wie es gerne gemacht wird, könnte man seine Szenen auch anhand einer x-Achse und einer y-Achse gemäß ihrer Aggregatzustände auf eine Matrix auftragen und anhand dessen vielleicht einen Verlauf feststellen. Denn außer dem Signal-Genre und dem dazugehörigen Kontrast-Genre hat ein Film auch noch die Tendenz, an verschiedenen Stellen entweder mehr Dialog (Drama) oder mehr Action (Adventure) zu beinhalten. Ein Film wie Der weiße Hai bewegt sich also zwischen den Polen Horror—Comedy sowie Drama—Adventure. Szenen wie der Angriff des Hais auf den von Richard Dreyfus gespielten Taucher im Käfig bewegen sich in der Horror/Adventure-Ecke, während dem entgegengesetzt der abendliche Narbenvergleich der Männer in der Kajüte in die Drama/Comedy-Ecke gehört. Hat man einmal alle Szenen auf dieser Matrix ausgetragen, wird man merken, dass sie sich schön gleichmäßig verteilen und gewissermaßen den gesamten emotionalen Raum graduell auffüllen. Aber nicht jeder Horrorfilm muss mit Elementen der Komödie arbeiten. Ein anderer Klassiker, der Film Alien, und damit meine ich natürlich den allerersten, kommt vollständig ohne Humor aus. Hier besteht der Wechsel der Aggregatszustände vor allem aus dem Gegensatz Horror und Science-Fiction. Der Film beginnt als Science-Fiction-Abenteuer und endet als Horror–Kammerspiel, bei dem die Dialogszenen eine wichtige Rolle spielen. Kaum ein Filmemacher hat das besser beherrscht als Alfred Hitchcock. Sein Film Die Vögel beginnt ganz bewusst als Screwball-Comedy, um dadurch nur umso effektiver in Richtung Horror–Desaster abzugleiten. Psycho beginnt als Liebesdrama und entwickelt sich... naja, das wißt Ihr ja. Frühe Filme wie The Lady Vanishes arbeiten ganz bewusst mit dem Wechsel Comedy—Thriller.

Zusammenfassend sei also gesagt: Szenen können schon allein durch die raffinierte Wahl von relationalen Gegenständen überzeugen. Zugleich wird dadurch das Genre beziehungsweise der Aggregatzustand einer Szene oder des ganzen Filmes festgelegt. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die der Zuschauer in Verbindung mit den verschiedenen Aggregatzuständen macht, gestalten sein Erlebnis insgesamt. Bezüglich des besseren Verständnisses, wie mit relationalen Gegenständen am besten umgegangen werden sollte, wird es einen eigenen Blog-Eintrag geben. Man sollte jedoch verstehen, dass es sich immer um einen materiellen Schnittpunkt handelt, der die abstrakte Welt der Bedeutung für den Zuschauer erfahrbar macht. So wie bei einem Fußballspiel die Augen der Zuschauer stets auf den Ball geheftet bleiben, da er in sich alle Bedeutungen vereinigt (den Zustand der beiden Mannschaften, den Verlauf des Spieles, die Stärkeverhältnisse, die Regeln, die Beschaffenheit des Bodens etc.) beurteilt der Zuschauer das Genre, die Beziehung der Figuren zueinander, den Plot, die Glaubwürdigkeit und vieles mehr vor allem anhand dieses wandelbaren Brennpunktes der Aufmerksamkeit (wer könnte je den Pferdekopf in Der Pate vergessen?). Daher quäle ich meine Studenten unablässig mit Übungen zum Finden der richtigen Thingies für jede einzelne Szene.

Ach so, jetzt bleibt noch die Frage offen, warum Dokumentarfilme stets von Monstern handeln. Bevor ich das auflöse, würden mich Eure Überlegungen dazu interessieren. Aber merkt Euch: ein guter Film ist wie ein gutes Menü.

Cinephile Grüße
Euer Vienna Filmcoach