Semiotik - gibt’s die überhaupt?

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip

Semiotik: das ist die Welt der Zeichen. Semiologie: die wissenschaftliche Klassifizierung der Zeichen und ihrer soziologischen Bedeutung. An den meisten Europäischen Medienakademien und Filmschulen wird Semiotik als etwas Selbstverständliches unterrichtet. Die Werke des französischen Pop-Philosophen Roland Barthes gehören dabei zur Pflichtlektüre. Für lange Zeit habe ich das alles nicht hinterfragt. Erst relativ spät erkannte ich, dass es auf dem Gebiet der Zeichenlehre durchaus unterschiedliche Auffassungen gibt.

Semiotik

 

Das hat damit zu tun, dass die akademische Medienwelt fest in den Händen der Nachfolger der französischen Nonsens-Philosophen wie Foucault, Derrida, Lacan, Deleuze, und wie sie alle heißen, ist, dass es darüber hinaus aber auch eine Philosophie und Kunstgeschichte gibt, die dem moralisch-ästhetischen Relativismus sehr kritisch gegenübersteht. Moment! Nonsens-Philosophen? Wie komme ich dazu, diese akademisch so bedeutungsvollen Lichtgestalten der abendländischen Philosophie so zu apostrophieren? Nun, ich schließe mich hier dem Urteil renommierter Denker wie Noam Chomsky oder Richard Dawkins an. 1996 veröffentlichte nämlich  ein Physiker namens Alan Sokal in einer allgemein anerkannten Zeitschrift über Soziologie einen Artikel mit dem Titel „Grenzüberschreitungen: voraus zu einer transgressiven Hermeneutik der Quantenmechanik“, welcher in Akademikerkreisen seine Zustimmung fand als er publiziert wurde, ehe Sokal erklärte, dass es sich hierbei um einen riesigen Bluff handle und er ganz bewusst Nonsens in den Jargon  von Pop-Philosophen wie Lacan, Boudrillard oder Deleuze verpackt habe. Damit galt die Literatur dieser Kulturrelativisten, die das Fundament jeglichen Wissens für ein bloßes soziales Konstrukt erklärten, als inhaltsleeres Gestammel entlarvt, das bestenfalls für Beschwörungsformeln taugt. Aber eben die Suggestivkraft dieser Sprache hat dafür gesorgt, dass der Nonsens nicht nur kein Ende fand, sondern - wie erwähnt - im Gegenteil an vielen westlichen Elite-Unis zum Denkprimat aufgestiegen ist. Nonsens kann man eben nicht mit Argumenten aushebeln, so wie man Zauberformeln nicht widerlegen kann. Die postmoderne Pop-Philosophie erklärt ja, dass subjektive Empfindungen von Unterdrückung mehr zählen als die Argumente der Vernunft. Dass sich die Katze dabei in den Schwanz beißt, weil die Nonsens-Formeln mit Vernunftargumenten verteidigt werden, wird zumeist ausgeklammert. So hat sich auch die Semiologie fest in der Medienwelt verankert, wobei die vielen totalitär-ideologischen Implikationen vermutlich nicht von allen ihren Apologeten verstanden werden.

 Aber sehen wir uns den Gegenstand der Semiologie näher an. Was ist ein Zeichen? Grundsätzlich etwas, das auf etwas anderes zeigt. „Zeigen“ und „Zeichen“ klingen nicht umsonst sehr ähnlich. Der Semiologe Charles Peirce (1839-1914) unterschied aber Index, Ikon und Symbol, wobei ein Index auf eine Sache zeigt, so wie ein Zeigefinger auf den Mond zeigen kann, während Ikon bedeutet, dass eine Sache einer anderen Sache ähnlich schaut und das Zeigen daher auf Wiedererkennung beruht. Symbol zuletzt ist etwas rein kulturell Angelerntes, wie etwa ein Hakenkreuz, das im Hinduismus anders belegt ist als hierzulande. Seine Popularität verdankt die Semiologie aber dem Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure (1857-1913), der zwischen Sprache und Bildzeichen eine Verbindung zu sehen glaubte, die er in Schriften darlegte, deren pseudo-wissenschaftliche Sprache von vielen zeitgenössischen Philosophen wie Sir Roger Scruton (1944-2020) harsch kritisiert wurde. Scruton legt in mehreren Artikeln nahe, dass Semiotik und Semantik nicht beliebig aufeinander bezogen werden können und dass die vielen Schlüsse, die Roland Barthes (1915-1980) und seine Mitstreiter aus Saussures Schriften ziehen, auf fundamentalen Irrtümern beruhen.

 Da wäre zum einen die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Semiologie. Die Endsilbe „-logie“ wird meist gebraucht, wenn der Mensch die beobachtbare Natur in wissenschaftliche Kategorien einteilt. Ichtiologie z.B. ist die Einteilung der Fische in Klassen und Unterklassen. Psychologie versucht das gleiche mit seelischen Störfällen. Dem gegenüber stehen Einteilungen von mensch-gemachten Artefakten wie Lokomotiven, Briefmarken oder Münzen. Numismatik aber ist keine Wissenschaft, sie ist bestenfalls ein Nebenzweig der Archäologie, wenn es sich um antike Münzen handelt. Selbiges gilt für die mensch-gemachten Zeichen. Eine systematische Übersicht ist noch lange keine Wissenschaft, so wie ich kein Wissenschaftler bin, wenn ich meine Buntstifte ordne. Wenn ich - wie Umberto Eco es tut - sogar Sinzeichen („Token“) als Zeichen anerkenne, also ein Ding selbst, das auf sich selbst verweisend ein Zeichen für sich selber ist, dann wird am Ende alles zum Zeichen; dann ist aber nichts mehr ein Zeichen und die Semiotik löst sich in Wohlgefallen auf. Darum müssen wir darauf beharren: Ein Zeichen ist etwas, das auf etwas anderes verweist. Ansonsten ist der Begriff sinnlos.

 Saussures überbordender Sprachbegriff führt nun dazu, dass Barthes sogar Speisefolgen bei einem mehrgängigen Menü als Sprache auffasst. Das beruht auf einer schlampigen Sprachauffassung. Nicht alles, was Struktur hat, hat auch Grammatik. Und nicht alle Erkennungsmerkmale einer Sache sind inhärent sprachlicher Natur. Ist die Uniform eines Polizisten ein Zeichen? Barthes argumentiert dafür. Scruton gibt aber zu bedenken, dass seines Erachtens die Uniform ebensowenig zeichenhaft ist, wie dies im Falle der Nacktheit eines Nudisten der Fall ist. Die Nacktheit zeigt nicht auf den Nackten. Sie macht ihn zum Nackten. Das gilt im übertragenen Sinne auch für Uniformen und Kleidung aller Art. So wie wir ein Haus zwar am Dach, dem Schornstein, den Fenstern und der Eingangstür als ein solches erkennen, so sind diese Elemente keine Zeichen. Sie sind funktionale Bestandteile des Hauses und werden erst zum Zeichen, wenn ich ein Haus abbilde, und zwar ausschließlich auf dem Bild. Jeder, über das hinausgehende Gebrauch des Begriffs „Zeichen“ macht diesen überflüssig.

 Worauf will ich mit dem ganzen hinaus? Eigentlich will ich nur ein wenig an der postmodernen Orthodoxie rütteln, aufzeigen, dass es sehr unterschiedliche Denkansätze gibt und dass man dem modernen akademischen Betrieb gern auch mal kritisch gegenüberstehen kann. Nunmehr will ich versuchen, aus diesem Labyrinth herauszuführen und einen pragmatischen Ansatz zur Semiotik zu präsentieren. Als Filmemacher und Bildgestalter haben wir im Prinzip nur drei semiotische Effekte zu beachten, die uns aber entscheidend im kreativen Tun helfen können. Ich habe diesen Ansatz während meiner Zeit als Theaterregisseur kennengelernt und mich gewundert, wie wenig diese nützliche Methodologie in der Medienwelt verbreitet ist. 

 Zunächst gilt es einmal festzustellen, dass Film eine Zeichensprache ist. Sehen wir in einem Film einen Berg, so bedeutet das eigentlich nicht „Berg“ sondern je nach Zusammenhang „Herausforderung“ (etwa in einem Bergsteigerfilm) oder „Schicksal“ (in gewissen Heimatfilmen) oder ähnliches. Zumeist verweist das konkrete Bild auf abstrakte Begriffe und Konzepte. Das ist der Grund, warum wir eine Folge von Bewegtbildern als sinnvoll erleben können. Figuren (Charaktere) sind in Filmen zumeist Zeichen für Konzepte oder Prinzipien, ähnlich wie die Götter der Antike für Begriffe wie „Liebe“, „Krieg“ oder „Fruchtbarkeit“ standen. Ein Nazi in einem Film verkörpert demnach das ganze Prinzip, das mit der Ideologie von der Herrenrasse einher geht. Wenn wir nur an die Buddy-Filme denken, in denen zwei sehr gegensätzliche Cops auf Verbrecherjagd geschickt werden, wird wohl klar, dass das nicht beliebige, psychologisch gestrickte Figuren, sondern dass sie Zeichen für Lebenskonzepte sind. Daher ist eine der wichtigsten Phasen in der Filmproduktion das Casting. Die Schauspieler müssen dabei nach ihrer äußeren Erscheinung gecastet werden, stets ausgehend von der Frage, ob sie das darzustellende Prinzip verkörpern können. (Darum beruht auch die Forderung nach ethnischer Repräsentation bei Filmbesetzungen auf einem groben Missverständnis)

 So ist es auch um die Verwendung von Requisiten bestellt. Die Beziehung der Figuren - respektive der durch sie verkörperten Prinzipien - wird durch Requisiten (Props) sichtbar gemacht. Wenn zwei Personen miteinander sprechen, macht es für den Zuseher einen großen Unterschied, ob eine der beiden dabei einen Revolver oder aber einen Blumenstrauß in Händen hält. Die ganze Story eines Films, die Entwicklung der Beziehungen der Figuren zueinander, kann durch wechselnde und sich verändernde Props erzählt werden, so wie es weitgehend die Stummfilme getan haben. Bleiben nur noch die sinnstiftenden Hintergründe. In den bildenden Künsten setzt der Hintergrund einen Kontrapunkt, der a) das Wesentliche im Vordergrund hervorhebt und b) einen Kontext bildet, der Figuren und Gegenstände erst sinnvoll dekodierbar macht. Ein Regenwurm ist auf schlammiger Erde weniger auffällig als auf einem Teller auf einem gedeckten Tisch. Ein Buch, das jemand vor unseren Augen aus den Flammen gerettet hat, wirkt bedeutungsvoller als eines, das man einfach aus einem Regal genommen hat. 

 Wenn wir also ein Bild gestalten, sei es zunächst einmal als Storyboard, sei es als geistiges Bild im Kopf, damit wir dem Set- und dem Kostümdesigner Anweisungen geben können, oder sei es bereits unmittelbar vor dem Dreh, wenn es gilt die Dinge vor der Kamera zu arrangieren und auszuleuchten, so müssen wir folgendermaßen vorgehen: Dem Drehbuch entnehmen wir - wenn es gut geschrieben ist - worauf es in der zu drehenden Szene ankommt. Das heißt, wir übersetzen den Text in eine „Schauanweisung“. Wenn die Kamera auf etwas gerichtet ist, dann zu dem Zweck, dass wir etwas sehen, so wie ein kleines Kind auf etwas zeigt und sagt: „Schau, Mama, wie toll!“ - So wie bei dem kleinen Kind, das unsere Aufmerksamkeit lenken will, so ist es auch mit dem Filmemacher in seinen jeweiligen Kameraeinstellungen. Er macht uns auf eine Qualität aufmerksam: „Schau, lieber Zuschauer, wie böse der Mann dreinschaut!“ oder „Schau, wie schnell das Auto rast!“ oder „Schau, wie zärtlich die beidem miteinander umgehen!“ Wenn wir uns also den Inhalt einer solchen Schauanweisung bewusst gemacht haben, so gilt es, das Bild in diesem Sinne optimal zu gestalten. Dazu vergegenwärtigen wir uns die drei wesentlichen semiotischen Effekte, die für die drei Fragen stehen:

  1. Woran erkenne ich es?
  2. Was macht es individuell und authentisch?
  3. In welchem Kontext entfaltet es seinen Sinn am besten?

Nehmen wir als Beispiel ein Duell mit Laserschwertern her, wie sie in den Star Wars-Filmen vorkommen. Woran erkenne ich, dass es sich um Waffen handelt? Was verleiht dem jeweiligen Laserschwert seine Einmaligkeit? Welcher Kontext stiftet Sinn? Und die Antwort könnte etwa lauten:

  1. Klassisches Längenverhältnis eines Schwertes zwischen Griff und Klinge (u.a.),
  2. Unterschiedliche Farben und Griffformen
  3. Gegnerische Waffen oder zu durchtrennende Materialien

Beonders anspruchsvolle Serien wie „Breaking Bad“ eignen sich hervorragend zum analytischen Studium dieser Effekte, da dort die Grundelemente Figuren, Props und Settings mit größter Raffinesse wie in einem Schachspiel bewegt werden. 

 Zur Individualisierung der Bildinhalte sei noch bemerkt, dass damit all jene Elemente gemeint sind, die nicht vollständig erklärt werden, deren Narrativ offen und ein wenig geheimnisvoll bleibt. Die Kinobilder von Andrej Tarkovskij sind voll von solchen Fragmenten nicht-erzählter Geschichten: Dinge im Hintergrund, Gegenstände, die das Bild füllen, aber mit der Handlung nichts zu tun haben.

 Zusammenfassend sei also gesagt, dass der übliche akademische Zugang zur Semiotik nicht nur nutzlos sondern in den Augen vieler bedeutender Denker auch falsch ist. Film ist eine Zeichensprache, bei der die einzenlnen Elemente nicht als Ikons zu betrachten sind, also Dinge repräsentieren, die ihnen ähnlich sind, sondern Indizes, also Zeigverweise, in dem Sinne, wie ein Geldschein auf der Leinwand nicht einen Geldschein in der Realität repräsentiert, sondern auf eine abstrakten Begriff wie etwa „Reichtum“ verweist. Daher wiederhole ich immer wieder, wie wichtig das Casting für das Gelingen eines Filmes ist. Wenn die Gesichter vor der Kamera nicht die abstrakten Prinzipien repräsentieren, um die es im Film geht, dann ist alles vergebene Liebesmüh. Aber sehen wir uns noch einmal die methodische Herangehensweise an die Semiotik an: Wenn wir gestalterisch tätig sind und einen Gedanken in ein Laufbild übersetzen wollen, so haben wir uns vier Grundfragen zu stellen, die das Feld der Semiotik abklären. Erstens: wie lautet die beabsichtigte Schauaufforderung? Welche Dinge muss ich als generisch identifizieren können? Wieviel Geheimnis verträgt das Bild? Welches Setting erzeugt am meisten Spannung und Sinn?

 

Immer noch zu wenig praktisch? Wenn der Covid-19-Ausnahmezustand je beendet sein sollte, dann könnt ihr ja bei meinen Kursen vorbeischauen, wo wir das praktisch üben.