Was, wenn die Inspiration mich verlässt? Kleiner Ratgeber für Filmautoren

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip

Man setzt sich voll Elan vor den Computer, um endlich das große Drehbuch zu schreiben, oder die entscheidende Schlüsselszene zu “Papier” zu bringen. Man sucht den ersten Satz… das erste Wort… Nichts kommt. Und nachdem man zwei Stunden planlos durch Facebook gesurft hat, muss man sich eingestehen: man hat wieder nichts weitergebracht. Wer ist schuld? Keine Frage: die Postmoderne. Wir leben in einem Zeitalter, da künstlerische Exzellenz nicht mehr erforderlich scheint. Beispiel Musik: Sich irgendwie kreativ austoben ist angesagt; hingegen sich in endlosem Üben wie ein Konzertpianist zu perfektionieren, überlässt man den paar elitären Schnöseln, die noch in klassischen Konzertsälen auftreten. Mir hat es sehr geholfen, dass ich 10 Jahre lang in einem kleinen Theater als Schauspieler fast allabendlich auf der Bühne stand. Manchmal hat man gute, manchmal weniger gute Tage. Aber das Publikum, das bezahlt hat, hat jeden Abend das gleiche Recht, mich möglichst in Höchstform zu erleben.


Wie tue ich also, wenn ich einen miserablen Tag habe? Die Antwort wird einigen von euch nicht gefallen:

ich falle auch an schlechten Abenden nicht unter einen Mindeststandard, weil ich gelernt habe TECHNISCH korrekt zu spielen. Ich kann auch an einem Abend, an dem ich krank oder emotional aufgewühlt bin, jemanden spielen, der gesund und fröhlich ist. Was für die Schauspielerei gilt, gilt für alle Künste.

Seit Duchamps Urinal haben sich für die Kunst die Pforten der Mittelmäßigkeit geöffnet. Du musst nicht mehr brillieren, du musst nur noch signalisieren. Das freut alle Apologeten des Mittelmaßes und daher erfährt diese Kunstauffassung regen Zulauf. Um zu reüssieren musst du nichts können, du musst nur die Kernbotschaft des Systems replizieren, damit du eine Förderung bekommst. Das rächt sich überall dort, wo Kunst funktionieren muss - also z.B. wenn ich in einem Film gezielt Spannung, Gelächter, Trauer oder irgendeine bestimmte Botschaft erzeugen will. Ein Aspekt dieser Tendenz ist auch, dass alles beliebig geworden ist. Wenn man bei der Suche nach Inspiration den Blick zur Decke richtet und an die Götter der Beliebigkeit um Beistand appelliert, so werden sie einem fast notwendigerweise nur Klischees schicken, alles was in dem großen Zettelkasten mit der Aufschrift “bereits Gesehenes” in unserem Hirn verfügbar ist. Wie soll da Neues entstehen? Wie KANN überhaupt Neues entstehen, wo doch schon alles dagewesen ist?

Aus der vorindustriellen Zeit kennen wir noch das System "Meister und Schüler”, bei dem ein junger kunstinteressierter Mensch über viele Jahre alle Kniffe eines Kunsthandwerks erlernt. Auf diese Weise sind die großen bildnerischen Werke der Renaissance entstanden. Noch bis in die Neuzeit haben Komponisten so ihre Kunst erlernt. Und ihnen ist immer wieder Neues gelungen. Die ersten Meister der Filmkunst waren jene, die sich vom Theater emanzipiert haben. Es gab noch keine Altmeister, keine Filmschulen. Ihre Schule war die Erfahrung durch Versuch und Irrtum. John Ford, Alfred Hitchcock, Charlie Chaplin haben von der Picke auf in den Studios das Handwerk praktisch erlernt und für sich definiert. Und man muss nicht jedesmal das Rad neu erfinden.

Also, wie vermeidet man diese alle Kreativität auslöschende Beliebigkeit?

1.Das Medium verstehen. Schlechte Filmemacher halten Film für eine Aneinanderreihung von Realitätshäppchen und haben keine Idee von Semiotik, von Wahrnehmungspsychologie und der geheimnisvollen Tatsache, dass wir unser “Brainscript” aus dem zusammenbasteln, was NICHT aus der Leinwand zu sehen ist. Wer die Grammatik des Films nicht beherrscht, dem ergeht es wie einem Komponisten, der von Harmonie-Lehre keinen Dunst hat und mühsam Ton für Ton am Klavier nach Gehör etwas zusammenbastelt. 

2.Die Arbeit nicht von “Ideen” abhängig machen. Film ist eine Übersetzungsleistung. Abstrakte, sinnstiftende Gedanken werden in bewegte Bilder übersetzt. Dazu ist eher Raffinement als das Vorhandensein von Ideen Voraussetzung. Und natürlich auch hier wieder die Kenntnis der Grammatik dieser Sprache. Die Übersetzung eines literarischen Gedankens in bewegte Bilder beginnt immer mit der Frage „wie zeige ich…?“ (siehe dazu meinen letzten Blogeintrag )

3.Dissoziativ Denken. Unsere gewöhnliche Herangehensweise an einen Gedankenprozess ist assoziativ. Das heißt wir denken in Naheliegendem. Und so werden wir weder uns noch dem Zuschauer etwas Überraschendes liefern können. Ich vergleiche das dissoziative Denken mit dem physischen Akt des Verbiegens einer Eisenstange. Es bedarf einer (geistigen) Anstrengung um zwei Dinge (so wie die Enden der Stange) dazu zu bringen, sich einander anzunähern, auch wenn es den Gesetzen der Bequemlichkeit widerstrebt. Gibt es eine Technik dafür? Ja, mehrere — und man muss sie üben. Eine davon besteht darin, einen Begriff in verschiedene Kategorien zu unterteilen und dann zu jeder dieser Kategorien das Gegenteil zu finden. Wenn man danach die einzelnen Kategorien wieder zu einem Begriff zusammenfasst, so stößt man auf etwas, das man nur schwer vorher sehen konnte. Das ist aber keine Garantie dafür, dass es dann auch etwas für den Film Passendes ist. Weil das ein sehr abstraktes Gebiet ist, habe ich ein eigenes Unterrichtsmodul eingerichtet, in dem diese verschiedenen Anwendungen geübt werden können.

4.Vielleicht am wichtigsten: funktional denken! Das bedeutet, dass ich, selbst wenn ich nicht den Schimmer einer Inspiration in mir fühle, so doch zumindest formulieren kann, was das zu schreibende Werk denn überhaupt leisten können soll. Dafür kommen Sätze infrage wie zum Beispiel „ich möchte eine Szene schreiben, in der der Held die Konsequenzen seines Handelns erkennt“ oder wie es Hitchcock formuliert hätte: „in dieser Szene soll unerträglicher Suspense entstehen“ um einige völlig beliebige Beispiele zu nennen. Es geht darum, dass ich mir bewusst mache, dass das zu schreibende kein Selbstzweck ist. Vielmehr sollte ich es als Werkzeug betrachten, um beim Rezipienten einen Gedanken, eine Stimmung, eine Emotionen auszulösen.

5.Wenn man sich der Funktion dessen, woran man arbeitet, bewusst ist, dann empfehle ich eine schrittweise Herangehensweise, und dann am besten keine formalistische oder schablonenhafte sondern eine etwas komplexere aber dafür auch raffiniertere Methode wie das Arbeiten mit Reverse Engineering oder Algorithmen, wie – hier sei mir wieder eine kleine Eigenwerbung gestartet – ich sie in meinem kleinen Modulen anhand von hochintelligenten Filmen und Fernsehserien (etwa am Beispiel „Breaking Bad“) unterrichte.

6.Wenn es schwer fällt, die Funktion dessen, was man konzipiert, zu identifizieren so kann man auch daran gehen, sich folgende Frage zu stellen: welches Problem gehe ich damit an? Filme haben im doppelten Sinne immer einen Problembezug. Zum einen beschreiben sie Menschen (oder Tiere oder animierte Gegenstände)  in Notsituationen und lassen uns an ihren Versuchen, sich daraus zu befreien, emotional Anteil nehmen. Zum anderen setzen Filme – zumindest die erfolgreichen – oft auf einen gesellschaftlichen Mangel auf. D.h., sie sagen, was längst gesagt werden musste, sie tun, was längst getan werden musste (zum Beispiel mit Humor ein Ventil für eine bestehende Krise schaffen); Kurz gesagt: Filme sind nicht bloß als ästhetisches Phänomen zu betrachten, sondern vielmehr als Antwort auf ein kleines oder großes kollektives Problem. 

7.Jetzt muss man noch eine Methode haben, um mit dieser Problemsicht umzugehen. Hier kommen wieder unsere Algorithmen zur Anwendung. Man könnte etwa folgendermaßen vorgehen: Man beantwortet Schnitt für Schritt Fragen die zu kreativen Entscheidungen führen. Folgende Fragen können am Anfang stehen (sie entsprechen auch in etwa den Schnittstellen am Anfang unseres Algorithmus.)

  • Was will ich eigentlich zeigen?
  • Welche Gegensätze prallen aufeinander?
  • Welches Problem steht im Mittelpunkt? 
  • Welche Figur muss hier vermittelnd eingreifen?
  • Für welches abstrakte Prinzip steht diese Figur?
  • Welcher Gegenstand ist der zentrale Spielball in diesem Spiel?
  • Welche Figuren stehen für die gegensätzlichen Prinzipien?
  • Welche Gemeinsamkeit macht sie zu Gegnern?
  • Welche jeweiligen Eigenschaften verschärfen den Konflikt?
  • etc.

8.Charaktere und Recherche - So wie es zu Plot und Szenen erlernbare Algorithmen gibt, so auch zu den Charakteren. Darüber berichte ich im nächsten Eintrag. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass die meisten Figuren einen Beruf haben, was bedeutet, dass es Material zum Recherchieren gibt. Wenn uns also wieder einmal die Inspiration verlässt, dann ist es Zeit im Internet (oder noch besser im lebendigen Kontakt mit betroffenen Personen) auf Materialsuche zu gehen. Und da ich eine vorgegebene Struktur zu befüllen habe, weiß ich auch genau, wonach ich suche.

Zum Abschluss eine Warnung! Die Arbeit mit vorgegebenen Formalschemata finde ich nicht sehr nützlich. Sie behindert die Kreativität eher, denn sie bietet all zu einfache Lösungen an. Damit meine ich etwa die Rezepte, die in den Büchern des berüchtigten Syd Field oder eines Blake Snyder stehen. Solche Schemata führen - wie ich immer wieder sagen muss - zu Schema-F-Lösungen und zu Filmen, die mit ziemlicher Sicherheit sehr vorhersehbar und langweilig sein werden. Die Arbeit mit Algorithmen ist da etwas ganz anderes, denn man weiß niemals, was herauskommt, während man sich den Bifurkationsbäumen Ast für Ast entlanghandelt. Wenn ihr dazu Fragen und Meinungen habt, so würde ich mich über Eure Kommentare freuen. Fragen beantworte ich direkt per Mail.

Das war’s für heute. Nächstes mal mehr über Charaktere und deren Algorithmen.

Wer sich für meine Workshops interessiert, kann sich hier informieren: Workshops zu Filmalgorithmen