Wenn ein Pferd sich beim Dreh die Beine bricht

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip

Als Kind können wir uns schwer vorstellen, dass unsere Muttersprache für einen Ausländer schwer erlernbar sein soll. Die richtige Verwendung der Wörter – so erscheint es dem Kind – ergibt sich doch von selbst. Wir mögen diese Ansichten eines Kindes ob ihrer Naivität belächeln, aber in Wahrheit fallen wir selber ununterbrochen auf diesen Denkfehler herein. Etwa wenn wir sagen: Warum kann ein Muslim im Westen nichts auf den Tschador verzichten?" auch hier verstehen wir nicht, dass ganz andere Regeln tief in das Wesen eines anderen Menschen aus einem anderen Kulturkreis eingebrannt sind – so wie es bei einer Sprache der Fall ist.

Mir ist nicht bekannt, ob es für dieses Phänomen einen Fachausdruck gibt, daher werde ich es jetzt einmal als „Muttersprachblindheit" titulieren. Wir sind zumeist emotional blind dafür, dass die Selbstverständlichkeit der Anwendung unserer Muttersprache nicht in der Sprache sondern in uns selbst begründet ist. Die deutsche Sprache ist für uns nicht deswegen relativ leicht beherrschbar, weil sie so einfach strukturiert ist, sondern weil wir sie schon in frühester Kindheit erlernt haben. Das leuchtet uns ja alles ein. Aber in meinen Vorträgen begegnen mir immer wieder Argumente, die die Funktionalität verschiedener dramaturgischer Kunstgriffe aufgrund dieser eigenen Muttersprachblindheit nicht hinterfragen. Denn auch Film ist eine Sprache. Es fällt uns schwer uns vorzustellen, dass die alten holprigen Stummfilme irgendwann einmal auf ein Publikum so faszinierend gewirkt haben, wie heute die Cineplex Blockbuster in 3-D.


Eine andere Form der Selbsttäuschung zeigt sich dann, wenn wir jemanden ein Suchbild vorlegen und gleich von Anfang an auf das zu suchende Element zeigen. Wenn wir dann behaupten: „dieses Element hättest du nie gefunden, wenn ich dich nicht darauf hingewiesen hätte" dann hat der angesprochene keine Möglichkeit den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Er wird es in den meisten Fällen in Abrede stellen und sagen „ich hätte es schon gefunden". Um also auf ein Rezeptionsdefizit aufmerksam zu machen bedarf es der Überrumpelung. Daher zeige ich in meinen Vorträgen meistens die Filmausschnitte unkommentiert und frage danach, was die Studenten bemerkt haben. Nur so ist es möglich, ihnen ihre Wahrnehmungseinschränkungendeutlich zu machen.


Nicht immer gelingt mir aber diese Überrumpelung und in vielen Fällen behalten die Studenten – zum Teil hochintelligente Personen – auf ihrem Standpunkt, an welchem ihre Muttersprachblindheit Schuld ist.


Eine meiner Thesen, die gerne heftig angezweifelt wird, ist die "Werkstoff/Inhalt-These". Sie besagt, dass die emotionale Qualität eines Kunstwerks ursächlich in der Diskrepanz zwischen dem dargestellten und dem darzustellenden besteht. So besagt also die These, dass es einen großen Unterschied macht, ob ich eine lebende nackte Frau sehe, oder die in Marmor gehauene Venus von Milo. Und wiederum macht es einen Unterschied, ob ich diese Venus von Milo im Original oder als Gipsimitat betrachte. Jedes Kunstwerk benötigt für seine Rezeption eine gedachte Entstehungsgeschichte. Wer hat das Kunstwerk geschaffen? Wie hat er es geschaffen? Was waren seine Motive? Und all diese Fragen laufen quer während ich das Werk auf mich wirken lasse. Ein guter Freund von mir behauptet dazu „er könne das emotional nicht nachvollziehen". Gegen ein solches Argument kann ich nicht viel ins Feld führen. Meine Vermutung ist aber, dass es sich hier eben um diese Muttersprachblindheit handelt.


Um in solchen Fällen für sich selbst eine Entscheidung treffen zu können, empfiehlt es sich ...

...immer die Problematik auf die Spitze zu treiben und Extremfälle zu untersuchen. Wenn ich mir sage „es ist mir egal, ob die Venus von Milo aus Marmor oder aus Kunststoff gemacht ist" so beruht diese Vermutung auf einem Spiel: ich versetze mich in eine bestimmte Rezeptionssituation und überprüfe das Gefühl, das ich in dieser fiktiven Situation empfände. Nun ist unser Instrumentarium zum beurteilen unserer eigenen Gefühle schon in konkreten Situationen sehr häufig verfälschenden Einflüssen ausgeliefert. Um wie viel nichtssagender ist nun eine solche Überprüfung eines subtilen Gefühls in einer Szene, die sich ausschließlich in der Vorstellung abspielt! Dieses Gedankenspiel steht auf sehr wackeligen Beinen. Daher empfehle ich – wie schon gesagt – extrem Beispiele heranzuziehen.


So könnten wir zum Beispiel das Thema der Pornographie untersuchen: wann ist eine Darstellung erotisch, wann ist sie pornographisch? Das Wesentliche an der pornographischen Darstellung ist, dass es mir um die Vermittlung eines realen Motivs geht. Das Medium ist mir dabei egal. Alles was ich anstrebe ist stimulierender Realismus. Das ist bei der Erotik nun ganz und gar nicht der Fall. Die Venus von Milo kann durchaus als erotische Darstellung gelten. Auch erotische Fotografien, mehr oder weniger kitschig, wie zum Beispiel die Weichzeichner-Aufnahmen eines David Hamilton, betonen den Werkstoff – auch wenn die Wahl des Motivs hierbei noch hohen Stellenwert genießt. Gehen wir einen Schritt weiter und betrachten ein erotisches Bild von Egon Schiele, so ist klar, dass die Kunstfertigkeit, die Entstehungsgeschichte, die Persönlichkeit des Künstlers und der Werkstoff weitaus wichtiger sind als das Motiv. Wenn wir also in solchen Fällen einseitig eine Unterscheidung zu treffen vermögen, so dürfen wir davon ausgehen, dass dieselben in subtileren Fällen ebenso Gültigkeit haben, wir aber Probleme haben, unseren erlernten Standpunkt loszulassen.


Nicht zuletzt deshalb ist es für viele Personen wichtig zu wissen, ob William Shakespeare wirklich die Person war, als die sie immer dargestellt wird. Das Werk steht nicht für sich allein. Es wird immer im Kontext seiner Entstehungsgeschichte betrachtet. Nur so können wir alte Kunst rezipieren. Wir blenden unsere gelernte Rezeptionsgewohnheit aus. So etwa können wir ein Streichquartett von Beethoven als „ungeheuer verwegenen für die damalige Zeit" bezeichnen. So ist es auch zu verstehen, warum Komponisten, die in der heutigen Zeit noch so komponieren wie Joseph Haydn (ja, die gibt es) nur Randerscheinungen sind. Die Entstehungsgeschichte ist integraler Bestandteil des Brain Script. In der Filmkunst gibt es immer wieder Versuche, künstlich einen ironischen Rückschritt herbeizuführen, etwa, wenn die Filmsprache des Stummfilms wieder aufgegriffen wird. Berühmte Beispiele sind Mel Brooks' "Silent Movie" und der oscargekrönte "The Artist". Gerade hier liegt aber der Reiz ganz besonders in der Betonung des Werkstoffs. Stummfilm in der Tonfilmzeit!
Damit ein solcher Diskurs aber nicht akademisch wird, ist es wichtig den praktischen Aspekt zu betonen. In meinen Vorträgen lege ich keinen Wert auf kunsttheoretische Haarspaltereien. Die Diskrepanz zwischen Werkstoff und Inhalt mache ich deshalb zum Thema, weil sie beim kreativen Prozess enorm wichtig ist. Film ist etwas Künstliches und die Frage, wie ich das für den kreativen Prozess nutzbar machen kann, beziehungsweise inwiefern ich das berücksichtigen muss, steht im Vordergrund. Film ist eine Vereinbarung zwischen dem Filmemacher und dem Publikum.„Stellen wir uns vor, was wäre wenn...", sagt der Filmemacher und das Publikum lässt sich darauf ein. Es ist dabei enorm wichtig, dass das Blut das wir sehen, künstliches Blut ist. Nichts reißt uns so aus der Handlung wie das betrachten einer Szene, bei dir zum Beispiel ganz offensichtlich ein Tier zu Schaden kommt. So geschieht es regelmäßig, wenn ich meinen Schülern einen Ausschnitt aus Andrei Tarkowskis Film „Andrei Rubljow" zeige, wo ganz offensichtlich ein Pferd beim Sturz von einer Treppe sich real die Beine bricht.
Summa summarum ist es für das Verständnis des eigenen Werkes wichtig, die Wirkungsweise der Diskrepanz zwischen Werkstoff und Inhalt verinnerlicht zu haben. Eine in Gips gegossene Plastik sagt etwas anderes aus als eine Marmorskulptur. Und wenn der amerikanische Schauspieler Tony Randall am Anfang des Filmes „Die Morde des Herrn ABC" zuerst als Toni Randall Auftritt, um sich vor den Augen des Publikums in die Figur des Hercule Poirot zu verwandeln, so tut das der Magie des Films eben keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Es ist also jeder Filmemacher eingeladen, diesen Effekt bei der Konzipierung seiner Werke eingehend zu betrachten.