Wie man mittels Algorithmen Charaktere schreibt. Eine Annäherung - Teil 1

Liebe Fan-Gemeinde von Vienna-Filmcoach!

Leider müssen wir euch an dieser Stelle die traurige Mitteilung machen, dass Ip Wischin am 18.11.2023 völlig unerwartet verstorben ist.
Ein Nachruf auf unseren lieben Lehrer, Coach und Freund ist in Arbeit.
Bis dahin Kopf hoch und – ganz in seinem Sinn – möge die Macht mit euch sein!

Marc Miletich, 1. Padavan von Ip
Im letzten Blogeintrag habe ich über die Probleme der Schreibhemmung geschrieben und empfohlen, man möge sich dagegen wappnen, indem man mit einer klaren, über einen längeren Zeitraum hinweg eingeübten Arbeitstechnik vorgeht - und zwar so lange, bis einen die Inspiration wieder hat. Wesentlicher Bestandteil dieser Technik ist dabei ein Algorithmus, den ich ansatzweise vorgestellt und erklärt habe. Auch für das Erstellen von Charakteren für ein Drehbuch gibt es Möglichkeiten, sich über die Phase der ersten Unsicherheit mittels Algorithmen hinweg zu helfen.
 
Fangen wir mit ein paar Grundsatzfragen an.
Wonach beurteilen wir eine Figur? Woraus schließen wir auf ihren Charakter? Um das zu beantworten, müssen wir uns einmal auf ein Faktum einigen, das oft verkannt wird: Nämlich, dass das Innere eines Menschen - seine Psyche - ein dunkler Ort ist, über den man nichts Brauchbares aussagen kann. Betrachten wir die Persönlichkeit eines Menschen daher wie eine black box, also eine Kiste, deren Inneres für uns unsichtbar bleibt, über das wir jedoch Aussagen treffen können, weil wir das Verhältnis von Input zu Output über einen Zeitraum hinweg erfahren und somit beurteilen können. Es ist wie ein Kaffeeautomat, der auf einem Display Informationen (und schließlich und endlich – wenn man Glück hat – an einer Stelle auch Kaffee) ausgibt. Dazu muss man verschiedene Knöpfe drücken aber auch Geld einwerfen. Auch bei Menschen muss man nur wissen, welche „Knöpfe“ man zu drücken hat, um etwas bei ihnen zu erreichen. Wirft man eine Münze in einen Kaffeeautomaten, so setzt man einen sehr einfachen Algorithmus in Gang. Die Maschine prüft das Gewicht der Münze und entscheidet danach den nächsten Schritt. Übertragen auf Charaktere wäre jede Art von Input die Münze, die dann von der Figur auf immer die gleiche Art und Weise geprüft wird. Das können Worte aber auch Handlungen sein. Nehmen wir eine einfache Figur wie den Cartoon–Character Wile E. Coyote. Jede eingeworfene „Münze“ wird auf folgende Eigenschaft geprüft: Ist sie hilfreich bei der Jagd nach dem Roadrunner? 
 
Aber stopp! Bevor wir irgendetwas über eine Figur in unserer Geschichte sagen können, müssen wir sie – die Geschichte – als Ganzes verstehen. Wir können uns eine Geschichte wie eine große Uhr vorstellen, die eben dazu dient, denen, die sie betrachten, die Zeit anzuzeigen. Man könnte das ihre „Botschaft“ nennen. Damit die Uhr irgend eine Zeit anzeigt, müssen in ihrem Inneren eine ganze Reihe sehr fein gearbeiteter Zahnräder ineinander greifen. Jede einzelne Komponente des Films entspräche so einem Rädchen. Und dazu gehören auch die handelnden Figuren. Das heißt, diese Figuren sind immer nur in Bezug auf das Ganze und in Bezug zueinander zu verstehen. An dieser Stelle verstehen wir auch das Problem, das Regisseure wie Hitchcock mit Method–Schauspielern hatten, die das Verinnerlichen und die Einfühlung in eine Figur zu einem Selbstzweck machten.
 
Wie also gehen wir an eine Figur heran, damit sie als Zahnrädchen funktionieren kann?
 
Wenn jemand, vor dem weißen Blatt Papier sitzt und beginnt, sich seine Geschichte auszudenken (heutzutage ist es natürlich kein Papier sondern ein Bildschirm), dann taucht die Frage auf, welche Figuren die Geschichte tragen werden. Und man kippt nicht selten in ein tiefes Fass von üblen Klischees. Dem Helden wird bald ein komischer Buddy, ein geheimnisvolles Girl, ein widerlicher Raufbold, ein Street Gangster oder sonst irgend ein beliebiges Wesen zugeordnet. Würde man den Autor fragen, warum er diese Figuren und keine anderen gewählt hat, so könnte er keine vernünftige Antwort geben.  Wenn wir hingegen funktional denken, dann gibt es keine Beliebigkeit. 
 
Der Held
 
Denken wir uns den Helden einer Geschichte nicht als Teil des klassischen Verhältnisses: Protagonist - Antagonist sondern tatsächlich als Zentrum der Geschichte, so erhalten wir das Bild eines Wesens zwischen den Welten. Mehr als einen explizit auszutragenden Konflikt braucht eine Filmstory ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Gegensätzen. Und da - mitten hinein - setzen wir den Helden und  definieren ihn auch so. Ob das wie im Fall von Star Wars das Verhältnis zwischen galaktischem Imperium und freiheitsliebenden Rebellen ist, in das ein naiver Farmerjunge gerät, oder wie im Fall von Jean Luc Godards “A bout de souffle” die alle bürgerlichen Regeln negierende Welt des von Jean-Paul Belmondo gespielten Kleinganoven vs. der Welt der staatlichen Ordnungshüter, in das ein von Jean Seberg gespieltes amerikanischen Mädchen gerät: ist das Spannungsverhältnis einmal etabliert, kann sich der Filmemacher Zeit lassen, die Figuren zu entwickeln. 
 
Die Figuren
 
Es gibt unterschiedliche Wege, die Charaktere eines Films funktional zu beschreiben. Einer davon lautet “Puzzlesteinchen”. Wir beschreiben die beiden widersprüchlichen Welten in Form der sie bewohnenden Wesen. Und sie alle sollten einzelne Aspekte dieser Welten repräsentieren. Die wahren Filmkenner unter den Lesern werden mit folgendem Beispiel etwas anfangen können: in dem Film „Stagecoach“ (wer diesen Film nicht kennt: ein Schwarz-weiß-Western, der den Deutschen Verleihtitel „Ringo“ trägt – Bei nächster Gelegenheit unbedingt ansehen!) von John Ford erleben wir eine abenteuerliche Fahrt mit der Postkutsche durch feindliches Indianer-Territorium. An Bord befindet sich ein buntes Sammelsurium von Repräsentanten der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Somit können wir diese Fahrt als Metapher für das Werden der amerikanischen Nation deuten. Da gibt es die Underdogs in Person der Prostituierten mit dem guten Herzen, dem stets alkoholisierten Doktor, dem notorischen Spieler und dem titelgebenden Ringo, einem zu unrecht von der Justiz Verfolgten. Dann haben wir den Sheriff und den etwas dämlichen aber gutmütigen Kutscher, eine schwangere Dame der feinen Gesellschaft, einen Whisky-Vertreter und schließlich die mit Abstand negativste Figur in dieser Kutsche: den Bänker, der das Geld seiner Kunden unterschlagen hat. Über all dem schwebt als ferne Bedrohung einerseits der Apache Geronimo, andererseits der miese Viehdieb Luke Plummer, der Ringo (gespielt vom jungen John Wayne) einen Mord angehängt hat. Jede diese Figuren stellt ein Puzzlesteinchen dar, aus dem sich die amerikanische Gesellschaft des 19. Jahrhundert konstituiert. Aus heutiger Sicht sind diese Figuren ebenso archetypisch wie klischeehaft. Der Trick für moderne Filmemacher lautet dabei, die Funktion der Figuren beizubehalten ohne auf Klischees zurückzugreifen. 
 

Das führt uns zu einer besonders raffinierten Technik, Figuren zu entwickeln, die wir den Emanationenbaum nennen wollen. Darüber mehr im nächsten Blogeintrag.